(August 2019) Neu arbeite ich mit aphasischen Kindern. Ich habe gemerkt, dass viele Leute nicht wissen, dass es auch Kinder mit Aphasien gibt, was mich motiviert hat darüber zu schreiben. Auch die Forschung hinkt hinterher: Es gibt weniger Studien, weniger zugängliches Fachwissen, weniger Testmaterial, weniger ambulante Beratungsstellen.
Der grösste Unterschied ist die Hauptursache für eine Aphasie: bei den Erwachsenen ist es ein Schlaganfall, bei Kindern hingegen ein Schädelhirntrauma. So habe ich schon Kinder betreut, die vom Pferd, Schlitten, Geländer, Sofa oder Fahrrad gestürzt sind und danach sprachliche Einschränkungen erlitten haben. Eine leichte Gehirnerschütterung führt übrigens in der Regel nicht zu einer Aphasie – die Kinder sollten aber gut beobachtet werden.
Die aphasischen Symptome der Kinder sind meist ähnlich wie diejenigen der Erwachsenen: auch Kinder finden die Wörter oder gar die Stimme nicht, sie benutzen Wörter die (semantisch oder phonematisch) verändert sind oder sie sprechen syntaktisch nicht korrekt. Sie wiederholen Laute, Wörter oder Sätze oder sie verstehen nicht, was ich sie frage. Auch bei Kindern sind oft alle Modalitäten der Sprache (Produktion, Verständnis, Lesen und Schreiben) betroffen. Erst ab dem Alter von ca. 1.5 bis 2 Jahren kann von einer Aphasie gesprochen werden, wenn der Spracherwerb auf Wortebene bereits eingesetzt hat. Natürlich können auch frühere Hirnschäden Sprachentwicklungsverzögerungen als Folgeschäden mit sich bringen, jedoch wird dabei nicht von Aphasie gesprochen.
Doch so ähnlich die Symptome bei den Erwachsenen und der Kinder - die Diagnostik und Therapie unterscheidet sich indes stark. Bei keinem Kind ist es mir bisher in der Akutphase gelungen, irgendeinen standardisierten Test gänzlich und korrekt durchzuführen. Viel häufiger ist Improvisationstalent und spielerisches Vorgehen gefragt. Dabei ist auch humorvolles Arbeiten, Beziehung und Vertrauen sehr wichtig. Auch erlebe ich die Therapie viel direkter, emotionaler. Die Kinder weinen, sind wütend, lachen und prusten. Das Miteinbeziehen der Eltern und der enge Einblick ins Familiensystem lässt die Grenzen zwischen Therapie und Alltag viel fliessender werden und wird optimalerweise vom interdisziplinären Team getragen.
Sowohl die logopädische Arbeit mit den Erwachsenen wie auch mit den Kindern ist faszinierend. Denn egal welchen Alters: Ich bin jedes Mal betroffen, wie stark sich eine Kommunikationsstörung auf das soziale Gefüge auswirkt und gleichzeitig begeistert darüber, wie plastisch das Gehirn ist und welche Fortschritte möglich sind.
Beim DLV im Shop ist die CD "Will werden wie ich war" erhältlich. Der Film zeigt die Geschichte der 12jährigen Anja.
Esther Siffert
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